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© NELE STRÖBEL

 

reparaturen der welt -
Das Buch


reparaturen der welt

Vorwort
Daniela Rippl

"Als eine Art intellektueller Bastelei" definierte Claude Lévy-Strauss das mythische Denken und machte darüber hinaus auf seine Funktion als Bindeglied zwischen künstlerischem Schaffen und wissenschaftlicher Erkenntnis aufmerksam. Inzwischen hat die Interaktion von Künstlern und Wissenschaftlern als wieder neu entdeckte Form der kulturellen Begegnung und Wissensvermittlung immer mehr an Bedeutung gewonnen, fördert sie doch Rahmenbedingungen, die den rasanten Entwicklungen in den neuen Medien und Technologien eine andere reflexive Dimension entgegenhalten. Die moderne Gesellschaft lebt in einer angeeigneten Welt, und die Mittel, die sie einsetzt, um sich diese Welt anzueignen, verdanken sich im überwiegendem Maße dem, was die Wissenschaft kann und weiß. Eine Welt ohne Wissenschaft, ohne Forschung und auf ihr beruhender Entwicklung ist undenkbar geworden. Trotzdem ist das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft nicht einfach, denn wissenschaftliche Entwicklungen führen oft zu Problemen, die mit wissenschaftlichen Mitteln alleine nicht bewältigt werden können. Die Möglichkeiten von Kunst und Kultur werden allerdings selten in Zusammenhang mit Wissenschaft gefragt.
Golden Gate Vor diesem Hintergrund hat das Kulturreferat ein Projekt der Münchner Künstlerin Nele Ströbel zum Anlaß genommen, einen Schlüsselbegriff unserer Kultur in seinem künstlerischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang vorzustellen, der durch die neuen Medien und Technologien, aber auch durch die Veränderungen im Verhältnis von Maschine und Mensch und schließlich durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit eine vollkommen neue Wertigkeit bekommen hat: die Reparatur. Reparieren ist ein kultureller Akt des Wiederherstellens von Dingen, von Leib und Seele, von Natur und Kultur gleichermaßen. Angesichts der allgegenwärtigen und täglich wachsenden Verwundbarkeit unserer Körper, unserer kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Symbole und der schrittweisen Zerstörung der Natur, ist die Reparatur zum unumgänglichen Bestandteil im gesellschaftlichen Miteinander geworden. Als kreativer Prozeß hat die Reparatur darüber hinaus eine schöpferische Qualität, die sie durch die ästhetische Differenz in der Wandlung von "alt" und "neu" gewinnt.
Aubrücke Aber nicht alles läßt sich reparieren. Reparaturen sind Grenzen gesetzt. Sie spaltet sich in Reparables und Irreparables. Der vorliegende Band unternimmt den Versuch, die Leser durch eine bunte Welt der Reparaturen zu führen, die die unterschiedlichsten Reflexionen und Skizzen in einem interdisziplinären Parcours zu Reparaturen der Welt vereint. Im philosophischen Auftakt entfaltet Bernhard Waldenfels den Zusammenhang von Ding, Leib und Reparatur, sowohl in Bezug auf zeitliche und ökonomische Faktoren als auch in der Gegenüberstellung von alt und neu. Heidrun Friese verweist auf die Uneinholbarkeit eines ursprünglichen Zusammenhangs und damit auf den niemals gelingenden Versuch der Rekonstruktion im Prozeß des Reparierens. Ulrike Leuschner betrachtet die textkritische Edition einer Handschrift als Reparaturwerkstatt der Literatur, in der sich die stetigen Veränderungen des kulturellen Gedächtnisses spiegeln. Die sogenannte Rechtschreibreform bezeichnet sie als "Reparaturmaßnahme ganz eigentümlicher Art" und die auf diese Weise reparierten Ausgaben älterer Literatur als "bloße Makulatur". Hartfrid Neunzert und Marlene Lauter beleuchten die Facetten der Reparatur im musealen Kontext. Während Neunzert für eine Reparatur eintritt, die den Istzustand bewahrt, Veränderungen dokumentiert und auf diese Weise der Geschichtsfälschung entgegenwirkt, vergleicht Lauter die Schwierigkeiten in der Kunstvermittlung mit den Schwierigkeiten des handwerklichen Reparierens.
Aubrücke Ein Erfahrungsbericht aus der Praxis der Architektin Ingrid Krau dokumentiert die Reparatur eines Dings als Abfolge unterschiedlicher theoriegeleiteter Analysen und stellt darin die Qualität von Gutachten zur Diskussion. Am Beispiel des Wiederaufbaus der Münchner Pinakothek zeigt Friedrich Kurrent die produktive Vereinigung von alt und neu: "Gerade die Botschaft einer dichten, innigen Bausubstanz mit den neuen Teilen ist es, die uns in der Physiognomie des Bauwerks so beredt entgegenspringt; die von seiner Geschichtlichkeit spricht; auch die seiner Zerstörung nicht verschweigt; eben die ganze Geschichte erzählt." An diesem Umgang mit Geschichte wird deutlich, welchen Stellenwert Erinnern und Vergessen sowohl im kulturellen als auch im psychischen Prozeß des Menschen einnehmen. Erst nach der Rückkehr ins heimatliche Ägypten, schreibt Alfred Ridgeley in der Retrospektive auf seine Geburtsstadt Alexandria, habe er die Wunden der Emigration heilen können. Die quälende Erinnerung an seine Heimat hatte durch die Konfrontation mit der Realität endlich ihre traumatische Wirkung verloren.
Heilung Über Chancen und Risiken politischer Reparaturarbeiten schreiben Peider A. Defilla und Hildegard Kronawitter, während Anneliese Durst auf die "Reparaturbedürftigkeit" beschädigter Erwerbsbiographien verweist: Die Politik braucht mehr denn je kommunale Projekte, die die Zukunft der Arbeitsgesellschaft und damit einen humanen Lebenslauf sichern. Reparaturen, so zeigt sich an den Textbeiträgen des vorliegenden Bandes, sind inhärenter Bestandteil unserer kulturellen Räume. Sie sind notwendig in jedem Bereich, können aber eine negative Eigendynamik entwickeln, wie es Lydia Andrea Hartl gerade an den Parallelitäten des Umgangs mit der Welt und des Umgangs mit dem menschlichen Körper offenlegt, beides Experimentierfeld zur "Konstruktion von Machbarkeiten". Und Paul Parin entlarvt schließlich die eigentümliche Aporie der reparatorischen Chirurgie zur Behebung von Kriegsschäden: "Wie absurd ist es doch, seine Zeit damit zu verbringen, verstümmelte Opfer der Gewalt notdürftig und unvollständig zusammenzuflicken, wenn man weiß, daß Machtkämpfe und die scheinbar unbeherrschbare Industrieproduktion ständig neue Opfer erzeugen, daß täglich Morde begangen und Wunden zugeführt werden."
Ausägewerk Am Ende der Lektüre dieses Bandes wird deutlich: Der Begriff der Reparatur ist durch eine Vielzahl von Konnotationen geprägt, die einem ständigen Wandel unterliegen oder um mit den Worten von Schultes und Schoeffel zu enden: "Reparaturwürdigkeit und Reparaturbedürftigkeit zeigen die besondere menschliche Relativität des Reparaturbegriffs. Wie die Reparaturwürdigkeit, so ist auch die Reparaturbedürftigkeit letztlich an subjektive Maßstäbe gebunden."
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